Verfassung der Gesellschaft

 

Auch siebzig Jahre Frieden in Europa sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen grundsätzlich auch in diesem Kulturkreis bereit sind zur Erreichung ihrer Ziele Gewalt anzuwenden. Das zeigte sich bei regionalen Konflikten (Nordirland, Baskenland, Katalonien) ebenso, wie bei Auseinandersetzungen zwischen Staaten, die künstlich entstanden sind (ehemaliges Jugoslawien, ehemalige Sowjetunion, der Nahe Osten). Zudem hat die kriegerische Auseinandersetzung zwischenzeitlich andere, nicht weniger gefährliche Formen angenommen, die Gesellschaften und Staaten spalten können (Armut, Umweltzerstörung, Migration, Terrorismus, Cyberkriminalität etc.). Diese neuen Formen der Bedrohung zersetzen Gesellschaften von innen und zerstören deren Gemeinsinn. Als Folge davon drohen Entsolidarisierung, Egomanie, Nationalismus und die Inanspruchnahme des Rechtes des Stärkeren.

 

Wer heute eine Familie gründen möchte, sollte sich Gedanken darüber machen, in welche Gesellschaft seine Kinder hineinwachsen. In eine Gesellschaft der Chancengleichheit oder in eine Gesellschaft des Prekariats. Bildung, Gesundheit, Selbstbewusstsein, Empathie und Engagement sind Voraussetzungen dafür, dass es Chancen für alle gibt. Eine moderne Marktwirtschaft muss die Versorgung aller Menschen sicherstellen. Sie muss sozial sein. Sie muss alle Mitglieder der Gesellschaft so einbeziehen, dass jedes einzelne Mitglied einen angemessenen Anteil vom gesamten wirtschaftlichen Erfolg abbekommt. Eine soziale Marktwirtschaft darf Kapital nicht höher bewerten als die menschliche Arbeitskraft. Sie muss Arbeit bereitstellen, für alle die arbeiten wollen. Sie muss die Tüchtigkeit des Einzelnen angemessen belohnen.  Sie muss aber auch diejenigen schützen, denen es nicht möglich ist für sich selbst zu sorgen.

 

Keiner sollte seinen persönlichen Erfolg nur sich selbst zuschreiben. Die Gesellschaft in der er sozialisiert wurde ermöglicht ihm den Erfolg. Der Markt, in dem er seinen Erfolg verwirklicht, wird durch diese Gesellschaft repräsentiert. Deshalb muss der (wirtschaftliche) Erfolg mit denen geteilt werden, durch die er erst ermöglicht wird. Der Staat muss  dem durch Gesetze gerecht zu werden, die Erfolg abschöpfen (z. B.  Steuern, Sozialabgaben), um ihn dann neu zu verteilen.

 

Wir alle wissen, dass es beinahe zum Volkssport geworden ist solche Gesetze zu umgehen. Es gibt kein Gen, das dafür sorgt, dass teilen zum Grundverständnis wirtschaftlichen Handelns gehört. Hier muss die Verfassung regeln, wie geteilt wird und wer die Verteilung vorzunehmen hat. Andernfalls können (Macht-) Monopole entstehen, die das politische System außer Kraft setzen und demokratische Strukturen zerstören. Niemandem, der mit einem Produkt oder einer Dienstleistung ein Grundbedürfnis aller Menschen befriedigen kann, sollte diese Tatsache nutzen dürfen, um unbegrenzten persönlichen Reichtum zu Lasten der Anderen zu erwerben. 

 

In unserer heutigen Gesellschaft ist erkennbar, dass gerade in den Fällen, in denen wirtschaftlicher Erfolg mit Massenprodukten erzielt wird, die Arbeitskraft des Einzelnen immer geringer bewertet wird (Mindestlohn). Das aus der Arbeitskraft erzielte Einkommen reicht für die Versorgung des Einzelnen nicht aus. Die Sicherung des Lebensunterhalts des Einzelnen wird der Gesellschaft aufoktroyiert. Der Staat muss „Aufstocken“, um den Lebensunterhalt abzusichern. Bei einem Arbeitsverhältnis, das die geltende Regelarbeitszeit (38 Stunden/Woche) umfasst, darf eine Gesellschaft so etwas nicht zulassen. Die Verfassung muss regeln, wie eine soziale Marktwirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft funktionieren soll. Die Verfassung muss das Gen sein, das über die Prägung der Gesellschaft ein Verhalten des Einzelnen erzeugt, welches humanes Zusammenleben in einer Gesellschaft ermöglicht. 

Unsere Welt ist superkomplex geworden. Entscheidungen haben heute häufig eine solche Tragweite, das sie an die Grenzen von Wirtschaft und Gesellschaft gehen. Wir erleben, dass die Entscheidungsträger (Parlamentarier, Minister, Regierungschefs, Vorstände) nicht mehr in der Lage sind die Verantwortung für solche Entscheidungen zu übernehmen. Das führt dazu, dass keine „großen“ Entscheidungen mehr getroffen werden, sondern nur kleine Stellschrauben gedreht werden, um den "Betrieb" am Laufen zu halten. Seit Jahrzehnten leben wir politisch und wirtschaftlich “von der Hand in den Mund”. Selbst große Staatsmänner waren der Meinung, Visionen seien etwas für den Arzt aber nichts für Politiker. Dieser Ansicht ist in keiner Weise zu folgen. Gerade in einer sich rasant ändernden Welt bedarf es einer klugen Vorausschau, um entscheiden zu können in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickeln soll. Das weltweite Bevölkerungswachstum und die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Umwelt mögen dafür ebenso ein Beispiel sein, wie die weltweite Migration. Die Gesellschaft als Ganzes hat die Auswirkungen solcher Veränderungen zu tragen, auch wirtschaftlich. Nur die Gesellschaft als Ganzes kann deshalb entscheiden, in welche Richtung die Entwicklung gehen soll. Um das zu gewährleisten wird es unverzichtbar sein, Mehrheitsentscheidungen dieser Gesellschaft herbeizuführen, die die Politik und auch die Wirtschaft binden.

 

Menschen mit ausreichender Bildung und Gesundheit, Menschen mit Selbstbewusstsein, Empathie und Engagement sind die Garanten dafür, dass solche Mehrheitsentscheidungen zum richtigen Ergebnis führen werden. Sollten wir es in den vergangenen Jahrzehnten verlernt haben uns eine eigene Meinung zu politisch und gesellschaftlich Relevanten Themen machen zu können, sollte die Verfassung auch hier die Grundlage sein eigenständiges Denken und Entscheiden zu fördern und zu verlangen. Wahlrecht muss Wahlpflicht sein! Eine ungültige Stimme ist allemal besser, als eine nicht abgegebene. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft verfügt über die Fähigkeit über sich selbst zu entscheiden. Dann sollten sie auch im Sinne des Gemeinwohls entscheiden können. Sollten sie das verlernt haben, sollten sie schnellstens wieder daran gewöhnt werden.

Geht man davon aus, dass vorausschauendes politisches und gesellschaftliches Denken einen Zeithorizont von bis zu zwanzig Jahren umfassen könnte, bedarf es vor einer Sachentscheidung über den einzuschlagenden Weg einer gründlichen Auseinandersetzung mit alternativen Szenarien. Der Zeitraum einer solchen Befassung mit dem Problem (Diskurs in Presse, Funk, Fernsehen, sozialen Medien) kann dabei ruhig bis zu zwei Jahre betragen. Dann allerdings muss die Entscheidung für ein Szenario getroffen werden. Die entsprechende Mehrheitsentscheidung muss alle binden. Streitigkeiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Bürgerbegehren etc.) finden nach einer solchen Entscheidung nicht mehr statt. Rechtsmittel sind nicht zulässig. Die Regierung hat den aus der Mehrheitsentscheidung resultierenden Auftrag unverzüglich umzusetzen. Dabei gilt: „Der Weg ist das Ziel“. Eine punktgenaue Umsetzung der Entscheidung wird bei so langen Zeiträumen kaum möglich sein. Sich ändernde Verhältnisse werden zu neuen Erkenntnissen führen, die berücksichtigt werden müssen. Das Ziel darf dabei aber nicht aus den Augen verloren werden. Mehrheitsentscheidungen sollten allerdings auf generationenübergreifende gesellschaftliche Problem-stellungen beschränkt sein.